Das Spottgedicht Frank Wedekinds im 'Simplicissimus' geriet dabei zum spektakulärsten Kommentar der Palästinareise Wilhelms II. Wedekind, der Zeichner Theodor Heine und der Herausgeber Albert Langen wurden wegen Majetätsbeleidigung angeklagt, und die gesamte Auflage des Satireblattes beschlagnahmt. Während der Dichter und der Zeichner eine mehrmonatige Zuchthausstrafe auf der Festung Königstein antreten mußten, entzog sich der Herausgeber Langen einer Verurteilung durch Flucht ins Ausland, von wo er erst 5 Jahre später zurückkehren konnte.

Weitaus schärfer als das Gedicht in der 'Damen-Zeitung' gab die Veröffentlichung dieses Gedichtes in der Palästina Sondernummer des Simplicissimus den theatralen Pomp Wilhelms II. und insbesondere der Reise nach Palästina der Lächerlichkeit preis. Sie nutzte die kaiserliche Reise um im Kontext einer neuen politischen Satirezeitung - die seit ihrer ersten Nummer im April 1896 bereits öfter mit den Zensurbehörden aneinandergeraten war, in konzentrierter dichterischer und sehr anschaulicher Form, zeitgenössische gängige und auch historiographisch aufgearbeitete Kritik an der Reiselust des deutschen Herrschers und dessen Dekorations- und Gefallsucht aufzugreifen und seinen mangelnden 'Regierungswillen' zu geißeln. Es sei deswegen nachfolgend zitiert.

    "Der König David stieg aus seinem Grabe,
    Greift nach der Harfe, schlägt die Augen ein,
    Und preist den Herrn, daß er die Ehre habe,
    Dem Herrn der Völker einen Psalm zu weihn.
    Wie einst zu Absisags von Sunem Tagen
    Hört wieder man ihn wild die Saiten schlagen,
    Indeß sein hehres Preis- und Siegeslied
    Wie Sturmesbrausen nach dem Meere zieht.

    Willkommen, Fürst, in meines Landes Grenzen,
    Willkommen mit dem holden Ehgemahl,
    Mit Geistlichkeit, Lakaien, Excellenzen
    Und Polizeibeamten ohne Zahl.
    Es freuen rings sich die histor'schen Orte
    Seit vielen Wochen schon auf Deine Worte,
    Und es vergrößert ihre Sehnsuchtspein
    Der heiße Wunsch, photographiert zu sein.

    Ist denn nicht deine Herrschaft auch so weise,
    Daß du dein Land getrost verlassen kannst?
    Nicht jeder Herrscher wagt sich auf die Reise
    Ins alte Kanaan. Du aber fandst,
    Du seist zu Hause momentan entbehrlich;
    Der Augenblick ist völlig ungefährlich;
    Und wer sein Land so klug wie du regiert,
    Weiß immer schon im Voraus, was passiert.

    Es wird die rote Internationale,
    Die einst so wild und ungebärdig war,
    Versöhnen sich beim sanften Liebesmahle
    Mit der Agarier sanftgemuten Schar.
    Frankreich wird seinen Dreyfus froh empfangen,
    Als wär auch er zum heiligen Land gegangen.
    In Peking wird kein Kaiser mehr vermißt,
    Und Ruhe hält sogar der Anarchist.

    So sei uns denn noch einmal hoch willkommen
    Und laß die unsre tiefste Ehrfurcht weihn,
    Der du die Schmach vom heiligen Land genommen,
    Von dir bisher noch nicht besucht zu sein.
    Mit Stolz erfüllst du Millionen Christen;
    Wie wird von nun an Golgatha sich brüsten,
    Das einst vernahm das letzte Wort vom Kreuz
    Und heute nun das erste deinerseits.

    Der Menschheit Durst nach Thaten läßt sich stillen,
    Doch nach Bewundrung ist ihr Durst enorm.
    Der du ihr beide Dürste zu erfüllen
    Vermagst, seis in der Tropen-Uniform,
    Sei es in Seemannstracht, im Purpurkleide,
    Im Rokoko-Kostüm aus starrer Seide,
    Sei es im Jagdrock oder Sportgewand,
    Willkommen, teurer Fürst, im heiligen Land.

Wilhelm II. hatte kurz nach seinem Amtsantritt 1888 noch den strengen Tagesablauf seines Großvaters Wilhelm I. befolgt und durch eigene Aktivitäten ergänzt. 1890 bereits konstatierte man mangelnden Arbeitswillen und wachsende Reiselust des Kaisers. Hatte der deutsche Herrscher in den ersten sechs Monaten als Monarch noch 65 Prozent des Jahres in Potsdam und Berlin verbracht, schrumpfte die Zeit seiner Anwesenheit in beiden Städten bis 1894 auf lediglich 47 Prozent. Das blieb so bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges.

Während die kaiserliche Familie für die Ballsaison im Januar und Februar in das Berliner Stadtschloß übersiedelte, waren bereits die Monate März und April für immer länger währende Auslandsreisen vorgesehen. (Italien 1893, 1894, 1896), Mittelmeer (1904,1905), Korfu (1908, 1909,1911,1912,1914).

Dazu kamen die Rekrutenvereidigungen in Wilhelmshaven, dann im Frühjahr der Besuch im kaiserlichen Jagdschloss Hubertusstock in der Mark Brandenburg, in Elsaß-Lothringen und in Karlsruhe, bei den Wiesbadener Maifestspielen und der Besuch bei seinem Freund Emil Graf Schlitz gen. Görtz und bei Graf Dohna-Schlobitten sowie die Rückkehr nach Potsdam für die Frühjahrsparade. Danach folgten dichtgedrängt die Teilnahme an der 'Kieler Woche', die Nordlandfahrten , im August ein Besuch auf Schloß Wilhelmshöhe, im September die Militärparade und im Oktober die offiziellen Jagdwochen. Den Abschluß des Jahres bildeten Stippvisiten Wilhelms II. bei Philipp Eulenberg und bei Max Egon Fürst zu Fürstenberg sowie kürzere Jagdausflüge nach Schlesien. Weihnachten verbrachte man in Potsdam, um dann wieder im Januar nach Berlin zurückzukehren. Das Programm, die Fahrtgesellschaft und der Reiseturnus blieben Jahr für Jahr annähernd gleich.

Die zeitgenössischen Tageszeitungen - so etwa der 'Berliner Lokal-Anzeiger' -- berichteten unter der Rubrik 'Hofnachrichten' minutiös von den einzelnen Reiseaktivitäten des Kaisers. Karikaturen und Witzblätter nahmen sich ebenso des reisefreudigen Herrschers an und das zeitgenössische Publikum war 1898 bei der spektakulären Palästinareise Wilhelms II. schon etliche Jahre an den immer abwesenden und überall präsenten Monarchen gewöhnt.

Bei seiner Vorliebe für öffentliche Auftritte und theatralen Pomp verwundert es daher auch nicht, daß der Monarch schon früh das Interesse der ersten Kinematographenoperateure erweckte und auch in diesem neuen Medium rasch sichtbare Präsenz bewies. Möglicherweise war er weltweit der erste Politiker, der sich kinematographieren ließ. Für die ersten Jahre der Kinematographie sind einige kurze Filme mit dem deutschen Monarchen erhalten. Verschiedene international tätige Filmer der Anfangsjahre stellten 'Kaiserbilder' her bei Truppenparaden, öffentlichen Feiern und Stapellauffeierlichkeiten.

Die 'hohen Herrschaften' selbst waren ebenso Publikum der Aufnahmen, wie ein städtisches Publikum in den Varietés, in dessen Nummernprogramm die Kaiseraufnahmen - aber auch die zahlreichen anderen Aufnahmen gekrönter und ungekrönter Häupter - ein wichtiger Bestandteil um 1900 waren.

Die Rezeption und der Status der Kaiseraufnahmen vor dem ersten Weltkrieg sowohl abhängig vom Umfeld der anderen Filme - so Martin Loiperdinger - in den sie von den Kinematographenbesitzern gestellt wurden, als auch von der sozialen Zusammensetzung des Publikums an den unterschiedlichsten Aufführungsorten dieser Filme.
Bei der Vorführung von Kaiser- und Armeebildern 1909 in einem proletarischen Kintop des Berliner Nordens hatte Alfred Döblin anstelle von Patriotismus "ein gehässiges Staunen notiert" und beim Abspielen der Filme in den Varietés vermutet Loiperdinger die Einebnung der Kaiserbilder als lediglich eine weitere attraktive filmische Schaunummer unter vielen.

Für meinen Untersuchungszeitraum für den neben der Vorführung vor den kaiserlichen Herrschaften selbst die Varietés einen bevorzugten Aufführungsort der Kaiseraufnahmen darstellten, ergibt sich in Bezug auf die sozialen Zusammensetzung des Publikums und die von Loiperdinger unterstellte direkte Abhängigkeit der wachsenden Begeisterung für das Kaiserhaus mit zunehmend sozialem Status allerdings ein differenzierteres Bild.

In den zahllosen Kriegervereinen beispielsweise, die ihre 2,8 Millionen Mitglieder aus dem Milieu der sogenannten kleinen Leute rekrutierten, war der Treueeid der aktiven Soldaten auf den Monarchen bindend.
Niedriger sozialer Status war also nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer durchgängig kaiserkritischen Haltung.
Umgekehrt läßt sich sich feststellen, daß ein höherer sozialer Status nicht unbedingt mit einer durchgängig positiven Haltung zum Monarchen einherging. Das Publikum der großen Varietés kam überwiegend aus den oberen sozialen Schichten - es umfaßte Angehörige des Besitzbürgertums- und wohl etwas weniger - auch des Bildungsbürgertums, Adelige, Offiziere, Diplomaten und ausländische Geschäftsreisende. Bei Angehörigen dieser Schichten und Berufsgruppen gab es durchaus auch eine kritische Distanz zum Kaiser.

Diese spiegelte sich sowohl in der bereits erwähnten zeitgenössischen Kritik am 'Reisekaiser' als auch in einer den unberechenbaren Regierungsstil des Monarchen kritisierenden, kaiserunfreundlichen publizistischen Öffentlichkeit. Als dessen pointiertesten Vertreter seien genannt: Maximilian Harden, Verleger und Besitzer der wöchentlich erscheinenden und an ein intellektuelles Publikum gericheten 'Zukunft' und der Historiker Ludwig Quidde mit seiner bereits im Frühjahr 1894 veröffentlichten Satire über den Kaiser, verkleidet als Studie über 'Caligula. Eine Studie über römischen Caesarenwahnsinn' . Sie erreichte zahlreiche Auflagen und amüsierte auch ein aristokratisches Publikum.

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