III Kinematographie in der 'Guten Gesellschaft'

Wohltätigkeitsveranstaltungen waren große Mode im Berlin der Jahrhundertwende, und der Kinematograph war fast immer dabei.
Die Massenpresse berichtete zahlreich von den Veranstaltungen, die die 'Gute Gesellschaft' zum eigenen Vergnügen und für die unterschiedlichsten 'Guten Zwecke' organisierte.
Die Tageszeitungen informierten oftmals bereits in den Vorankündigungen über Anlaß, Organisation und Programm der Veranstaltungen. Die illustrierten Wochenblätter und Satirezeitungen thematisierten - auf unterschiedlichste Weise - dagegen ausführlich das gesellschaftliche Phänomen der 'Wohltätigkeit' und der 'Guten Gesellschaft'. Die illustrierten Frauenzeitungen der Zeit feierten regelrecht die "Zweckfest[e] der Gesellschaft" in ausführlichen Berichten, gehörten doch ihre Leserinnen zu wichtigen Protagonistinnen der Wohltätigkeitsveranstaltungen - als Organisatorinnen, Schirmherrinnen, auf der Bühne oder hinter den Verkaufsständen. Alle Zeitschriften boten jedoch aufschlußreiches Material über die Position der Kinematographie im Kontext dieser bislang nicht erforschten Form der Vergnügungskultur im kaiserlichen Deutschland.
Im Folgenden werde ich deshalb zunächst das gesellschaftliche Phänomen der 'Wohltätigkeitsfeste', so wie es sich in der Presse darstellte, analysieren. In der Beschreibung der Feste lieferten die zeitgenössischen Beobachter nicht nur eine Beschreibung der Veranstaltungen. Ihre Bedeutung beschränkte sich in ihren Augen nicht auf die an ihnen teilnehmenden gesellschaftlichen Gruppen. In ihnen spiegelten sich auch die 'aufstrebende' Metropole Berlin. Zugleich geben ihre Beobachtungen Aufschluß über die Interdependenzen mit den anderen in der Stadt bereits bestehenden Formen der Vergnügungskultur.

1. Wohltätigkeit und die 'Gute Gesellschaft'

Zur Vertreibung der 'strukturellen Langeweile' der höfischen Existenz dienten seit jeher die unterschiedlichsten Unterhaltungsangebote für die bei Hofe weilenden Adeligen.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert machte eine neue Form des 'adeligen Vergnügens' in der Berichterstattung der zeitgenössischen Massenpresse von sich Reden. Die 'Gute Gesellschaft' hatte die Wohltätigkeitsfeste entdeckt und mit ihnen das große Publikum; die Leserinnen und Leser der Publikationen in denen über diese Veranstaltungen berichtet wurde.

Nicht ohne die höfische Konkurrenz in Wien - "die klassische Stadt des heiteren Lebensgenusses" aus den Augen zu lassen, beschrieb die 'Illustrirte Frauen = Zeitung' im Sommer 1896 die zum Vorbild in Österreich inzwischen aufgeschlossene aristokratische Wohltätigkeit der Reichshauptstadt:

    "Noch ist's kein Jahrzehnt her, daß in Berlin derartige Veranstaltungen zu einem Brauch wurden, der weite Kreise alljährlich erfreut und interessirt. Aus den Memoiren der verstorbenen Frau Helene von Hülsen geb. Gräfin Häseler, wissen wir, daß der damalige Lieutenant im Kaiser=Franz= Garde=Grenadier Regiment und späterer General=Intendant der königlichen Schauspiele Botho von Hülsen, in den fünfziger Jahren zur Linderung einer durch verherrende Überschwemmungen im Oder=Gebiete eingetretene Nothlage der dortigen Bevölkerung das allererste aristokratische Wohltätigkeits = Theater der preußischen Residenz ins Leben rief."

Unter dem Patronat vor allem der Fürstinnen Marie Radziwill und Friedrich von Hohenzollern und der Gräfin von Hochberg schickte die adelige Gesellschaft regelmässig seit den 1880 er Jahren "ihre jungen Vertreter und Vertreterinnen stets kühner und erfolgreicher vor das Publicum, um diesen klingenden Gaben für vom Schicksal minder Begünstigte zu entlocken." Mindestens einmal in der Saison traten die "vornehmen Gestalten der Hofgesellschaft" vor das Berliner Publikum auf "[die] Bretter[n], welche die Welt bedeuten"; in der Wiedergabe "Lebender Bilder" oder aber im "dramatischen Spiel".
Die 'Gute Gesellschaft' im Berlin der Jahrhundertwende, die ihre jungen adeligen Mitglieder als schauspielenden Dilettanten für einen 'guten Zweck' auf die Bühne schickte, beschränkte sich jedoch nicht auf diese adeligen Mitglieder, auch wenn diese oftmals die Berichterstattung über diese Veranstaltungen dominierten.
"Gesellschaft!", so der Freiherr von Dincklage, "Ja, wie kann in Berlin, in der Zweimillionen=Stadt von "der" Gesellschaft die Rede sein? Die "Gesellschaft" ist hier, wie in allen Metropolen, ein Begriff der a l l e d i e j e n i g e n K r e i s e umfaßt, die nach Bildungsgrad, Rangstellung, nach Wissen, Können und, last but not least, nach der Finanz=Lage diesem Begriffe gerecht werden."
Auch wenn der Freiherr die neuen Zeiten erkannte und die Bedeutung einer großstädtischen bzw. metropolitanen Struktur für die Ausdifferenzierung ihrer 'Gesellschaft' beobachtete, blieb der kaiserliche Hof für ihn Zentrum, der "(...) Mittelpunkt für alle Gesellschaften der Gesellschaft". Gesellschaftsfähig waren dabei aber auch diejenigen, die sich in "(...) loyaler Gesinnung und gesellschaftlicher Bildung an den Kaiser und sein Haus anlehnen." Die 'Hoffähigkeit' war also keine ausschließende Bedingung mehr, ein Mitglied der 'Gesellschaft' zu sein.
Die Zusammenführung der Kreise der Gesellschaft Berlins im Rahmen der Wohltätigkeitsfeste war für den Freiherrn von Dincklage, der um die Jahrhundertwende auch für die 'Illustrirte Zeitung' von diesen Festen berichtete, darüber hinaus ein Beitrag zur innerstädtischen Toleranz zwischen den sozial unterschiedlichen Gruppierungen (gemeint waren hierbei natürlich nur das Bürgertum und der Adel) der Metropole. Ich betrachte die Publikationen des Freiherrn als einmalige Quelle, die das Phänomen der Wohltätigkeitsfeste aus der 'Innensicht' eines Beteiligten beschrieben.

Weiter