In einem fiktiven Gespräch mit einem adeligen Freund kommentierte von Dinck- lage 1901 die Veränderungen im gesellschaftlichen Leben der Stadt, die sich durch die Abhaltung der Wohltätigkeitsveranstaltungen ergeben hatten. Beide hatten vor sich eine Aquarellzeichnung des Hauszeichners der 'Illustrirten Zeitung' Eduard Cucurel, die einen Einblick gab in das 'Foyer des könig. Opernhauses während des Zwischenaktes einer Wohltätigkeitsveranstaltung.'

Es handelte sich dabei um die idealisierte Wiedergabe des gesellschaftlichen Treibens auf einer solchen Veranstaltung, nicht um die Illustrierung einer aktuellen Begebenheit. Vor Augen hatte der Zeichner, dessen Werk von Dincklage kommentierte, kein bestimmtes Wohltätigkeitsfest oder tatsächlich in dieser Konstellation auftretendes Personal.

    "Da erkennst du während des Zwischenaktes einen prinzlichen Husarenoffizier in lebhaftem Gespräch mit der berühmten Künstlerin - der Réjane! Dort erblickst Du denn Altmeister der Kunst, in unscheinbarem Bürgergewand, umgeben von Comtessen und Excellenzdamen. Alle Welt kennt ihn, auch wenn er nicht die Insignien des des hohen Ordens vom Schwarzen Adlers trägt. Hier erkennst Du unseren großen, vielverehrten und beneideten Dramendichter im lebhaften Gespräch mit einer Dame, dort den ehemaligen Offizier und jetzt so bedeutenden Romandichter. Hohe Staatsbeamte, Damen der höchsten Aristokratie, Offiziere der Garde vervollständigen das Bild. Der Maler hat wol keine bestimmte Scene, keinen einzigen Fall vor Augen gehabt - nein, sein Kunstwerk zeugt eben von einer gründlichen Beobachtungsgabe nicht nur für äußere Vorgänge, sondern auch für deren inneren Zusammenhang, deren Werdegang - er zeigt dem Beschauer ein Stück Berlin der neusten Strömung, des selbst im Vergnügen geistig aufstrebenden Berlins."

In Text und Bild wurden hier die von von Dincklage bereits 1897 formulierten Beobachtungen bezüglich der Veränderungen im gesellschaftlichen Leben der Stadt anläßlich der Wohltätigkeitsfeste typisiert, nochmals bestärkt und weiter ausgeführt.

    "Die Scene, die wir hier vor uns haben, führt uns in eine jener geselligen oder künstlerischen Veranstaltungen, die neben dem eigentlichen Zweck, der Wohlthätigkeit Mittel zu verschaffen, in hohem Maße geeignet erscheinen, jene Schlucht zu überbrücken, die einst Geburts - und Geistesaristokratie, den Adel und die Plutokratie, Christenthum und Judenthum so schroff voneinander schieden."

Nicht mehr nur die Herkunft entschied über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben - sondern gleiche Bildung und Erziehung: "Nirgends sind die gemeinnützigen Veranstaltungen häufiger besucht als hier. Ein Blick aber auf die Namen irgendeines Comités zeigt deutlich, daß - nun, daß der Zweck eint - eint alle die Klassen der Gesellschaft, denen durch gleiche Bildung und Erziehung eine gewisse Parität zusteht. Bei solchen Veranstaltungen findet nicht selten der abgeschlossenste Kastenmensch die Gelegenheit, vielleicht mit Erstaunen zu erkennen, daß geistiges Verständnis sich eben so wenig an die in der Gesellschaft gezogenen Grenzen bindet wie das Genie und die Kunst, das Talent und die Gelehrsamkeit."
Der Freiherr feierte nicht nur die neu entstandene 'Gesellschaft' Berlins, sondern stellte sich mit seinen Beobachtungen auch in die Reihe der (Lokal)presse Berlins, die die Reichshauptstadt auf der Höhe mit den konkurrierenden Metropolen der Jahrhundertwende beschrieb. Er erweiterte das Bild einer vorwiegend auf technischem und künstlerisch Gebiet 'modernen' Stadt , um das einer sich 'fortschrittlich 'und 'tolerant' gebenden 'Guten Gesellschaft', und beschrieb es als konstitutiven Bestandteil der jungen Metropole: "(...) und Berlin kann gerechterweise das Verdienst nicht abgesprochen werden, daß es in dieser Art des Brückenbaus allen anderen Städten vorangeht."
Für die Protagonisten waren diese Feste gleichsam 'soziales Übungsfeld' an einer neuen gesellschaftlichen Situation:

    "Man lernt sich eben kennen und respectiren. Da findet der Gelehrte etwa einen Offizier mit der Kenntniss gerade seiner Wissenschaft, daß es ihn in Erstaunen setzt, und da erkennt die Frau Gräfin bei der Frau Commerzienrath eine Art des savoir faire und savoir vivre, eine Sicherheit im Auftreten, die sie bislang nur bei der eigenen Kaste oder bei dem eigenen Stamm zu beobachten glaubte zu können."

Die Wohltätigkeitsfeste der Jahrhundertwende, die als hervorragende gesellschaftliche Treffpunkte der sich füreinander öffnenden adeligen und bürgerlichen Schichten gelten kann, ließen ihren eigentlichen Anlaß über das gesellschaftliche Ereignis schnell vergessen. Der finanzielle Aspekt, also die Begründung dieser Feste, wurde neben dem "Reiz, einmal mit Menschen außerhalb der Kaste in Berührung zu kommen" oder der "Freude am Sehen und Gesehen werden", marginal.
Der ironische Kommentar der 'Berliner - Damenzeitung' anläßlich der allgemeinen 'Vorweihnachtliche[n] Wohltätigkeit' im Jahre 1902 brachte dies - im Gegensatz zu den vom Freiherrn von Dincklage wohlgesetzten Worten - in einer weitaus direkteren Sprache zum Ausdruck:

    "Unsere oberen Zehntausend essen, trinken, tanzen und flirten zum Wohle der armen Nothleidenen, damit denselben am heiligen Abend auch eine Freude bereitet werden kann. Pessimisten behaupten zwar, dies geschehe nicht, nur um den Bedürftigen Unterhalt zu schaffen, sondern um sich selber gegenseitig zu unterhalten! Jedoch der Zweck heiligt die Mittel! Den Armen ist es in der Sache gleichgültig, woher die Mittel kommen, durch welche ihre trauige Lage gemildert wird, und das Essen, Trinken, Tanzen und Flirten schmeckt den Genießenden noch viel besser in der Vorausssetzung des guten Zweckes, um dessen die Wohltätigkeitsveranstaltungen zusammen berufen sind."

Dabei war die die Teilnahme des Hofes bzw. einiger exponierter Angehöriger - dem schichtenübergreifenden Charakter dieser Veranstaltungen zum Trotz - doch immer wieder eine besondere Attraktion und trug nicht selten zur Steigerung des finanziellen Gelingens dieser Veranstaltungen bei:

    "Wird ein Prinz oder eine Prinzessin erwartet, oder steht etwa eine fürstliche Dame als Protectorin des Unternehmens an der Spitze des Programms, dann wird es gewiß voll, und voll wird dann auch die Kasse."

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