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II Kinematographie in der Großstadt
1. Kommerzielle Vergnügungen
Im Mittelpunkt der folgenden Analyse steht das Verhältnis von großstädtischem Vergnügen und Kinematographie in der Reichshauptstadt um 1900.
Die Kinematographie um die Jahrhundertwende war ein überwiegend ephemeres Phänomen. Bis zum Aufkommen von festen Abspielstätten ab 1905/06 fanden kinematographische Vorführungen an den bereits etablierten großstädtischen, unterschiedlichsten Vergnügensorten statt. Filme wurden vorgeführt in Varietés, in Gaststätten und Sommergärten, in Gaststätten ebenso wie auf diversen Märkten. Sieht man von dem Versuch Oskar Messters ab, mit dem ersten Kino 'Unter den Linden 21' in den Jahren 1896/1898 eine hauptsächlich der kinematographischen Präsentation gewidmeten Unterhaltungstätte zu schaffen, waren es in Berlin vor allem die großen, internationalen Varietés, wie das 'Apollo' und der 'Wintergarten', die in den ersten 10 Jahren der Kinematographie zu festen Vorführorten der 'lebenden Photographien' wurden. Sie werden im Mittelpunkt der folgenden Darstellung stehen. Sie waren die bekanntesten Varietés Berlins und wurden von einheimischen und fremden Publikum stark frequentiert. Sie gehörten zum Bild der Stadt, die sich mittels der veröffentlichten Meinung in den von mir analysierten Massenpressepublikationen, aber auch durch die zahlreichen Reiseführer, dem Publikum als 'Metropole des Vergnügens' darstellte.
Die von mir gesichteten Pressepublikationen weisen in ihren Annoncen bezüglich der anderen Abspielstätten - kleineren Varietés, Volksgärten und Brauereien - eine eher gelegentliche und zu besonderen Anlässen stattfindende Vorführung kinematographischer Bilder auf. Das bedeutet natürlich nicht, daß es diese Veranstaltungen nicht öfters gab, oder diese nicht auch regelmässiger stattfanden. Es ist nicht zwingend davon auszugehen, daß alle Anbieter von Vergnügungen diese auch regelmässig annoncierten.
Dennoch lassen sich durch die Angebote der reklametreibenden Industrie maßgebliche Institutionen der vielfältigen Berliner Unterhaltungsszene um 1900 festmachen.
Der soziale und künstlerische Ort der Kinematographie in diesem Gefüge wird im Folgenden dargestellt werden. Berichte über diese Vergnügungen in den Schaustellerzeitschriften 'Artist' und 'Komet' machen auf die breiteren Publikumsschichten und die unterschiedlichsten Rezeptionsweisen in den verschiedenen Programmkontexten der eher popularen Veranstaltungen aufmerksam.
Kinematographische Vorführungen gab es in der Reichshauptstadt um 1900 aber auch bei den zahlreichen (Wohltätigkeits)-Veranstaltungen des 'Deutschen Flottenvereins'. Der reichsweit organisierte Verein, der 1900 zahlreiche Bezirksausschüsse in der Reichshauptstadt gründete, bediente sich zur Förderung des Flottengedankens verschiedenster Propagandaformen. Die Kinematographie war in diesem Kontext Bestandteil der unterschiedlichsten Programme des Vereins, die dieser der Bevölkerung im Rahmen seiner vielfältigen Propagandaktivitäten zur Unterhaltung und Belehrung anbot.
Sowohl die großstädtische Varietékinematographie, als auch die kinematographischen Vorführungen des Flottenvereins werden im Folgenden erstmalig im Kontext einer großstädtischen Vergnügungskultur der Jahrhundertwende analysiert.
Als Signum dieser Vergnügungskultur erscheint hierbei eine eigentümliche Mischung aus international organisierter, moderner Unterhaltungskultur in den großen Varietés der deutschen Reichshauptstadt, die wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde - im Kontext der dort gezeigten Kinematographie - auch den zeitgenössischen Nationalismus zum Ausdruck brachte. Gleichzeitig existierte eine moderne Imitation bekannter Vergnügungsformen durch den 'Deutschen Flottenverein' an beliebten Orten des großstädtischen Vergnügens. Das Publikum dieser Veranstaltungen reichte von den adeligen und (wirtschaftsbürgerlichen) Kreisen in den großen Varietés bis zu den breiteren bürgerlichen - bis kleinbürgerlichen Schichten, die mit den preisgünstigeren Veranstaltungen des Flottenvereins und an zahlreichen anderen Vergnügungsorten angesprochen wurden. Die Kinematographie war hierbei Bestandteil des jeweiligen Unterhaltungsprogramms und wurde natürlich von demselben Publikum rezipiert, das auch diese Programme sah. Deutlich wird am Beispiel Berlin dabei, daß die großstädtische Kinematographie in ihren Anfangsjahren maßgeblich von adeligen und bürgerlichen Schichten als regelmässiges Vergnügungsangebot wahrgenommen wurde und Eingang fand in deren mondänen Lebensstil bzw. Teil der großstädtischen Freizeitaktivitäten darstellte. Für ein breiteres bürgerliches bis kleinbürgerliches Publikum kann gelten, daß die Kinematographie wohl eher sporadisch und unregelmäßig zu den - oftmals sommerlichen - Freizeitaktivitäten gehörte. Der 'Deutsche Flottenverein' erreichte dieses Publikum dabei aber in einer spezifischen Form der politischen Propaganda, zu der das neue Medium Film von Anfang an konzeptionell dazu gehörte.
Die von mir analysierte - in hoher Auflage erschienene - Tagespresse wie der 'Berliner Lokal-Anzeiger' berichtete über die Varietéprogramme zu den monatlichen Programmwechseln mit den Besprechungen der Angebote meist der großen Häuser und erwähnte dabei die Kinematographie nur selten ausführlich (siehe Kapitel I dieser Arbeit). Die Unterhaltungsblätter wie die 'Berliner Damen-Zeitung' oder das 'Kleine Journal', das als Tageszeitung auf das gehobene Bürgertum und ein adeliges Publikum orientiert war, aber auch das in kleiner Auflage erscheinende 'Adels- und Salonblatt' der 'Deutschen Adelsgenossenschaft' waren in ihrer Beschreibung des Ambientes und der Atmosphäre in den großen Häusern bedeutend ergiebiger. Sie lieferten einen bislang nicht dargestellten Einblick in das Publikumsverhalten und die Publikumsstruktur angesichts der großstädtischen Kinematographie um 1900. Die Artisten - und Schaustellerfachzeitschriften 'Artist' und der 'Komet', die in ihren Berichten aus Berlin regelmässige Kritiken aus den Vergnügungsplätzen der Hauptstadt brachten, behandelten die Kinematographie nicht weniger stiefmütterlich als die Berliner Tagespresse. Hier standen natürlich Leistungen der Artisten und Schausteller auf dem Programm, deren Standesvertretungen diese Zeitschriften waren. Die Tagespresse brachte aber darüber hinaus kaum Interesse für eine ausführliche Besprechung der Varietéprogramme auf. Sehr zum Leidwesen der artistischen Standesvertretungen, die im 'Artist' zu Wort kamen. 1904 empörte sich das Blatt über einen Bericht einer Breslauer Zeitung aus dem dort ansässigen Viktoria-Theater. Kurz vor Beginn des Programms war ein Gasmotor zur Erzeugung elektrischen Lichts ausgefallen und die Vorstellung mußte schließlich abgesagt werden.
Dennoch hieß es am darauffolgenden Tag im 'Breslauer-General-Anzeiger':
"Viktoria-Theater (Simmenauer Garten). Die gestrigen Premiere des Oktober-Programms fand bei ausverkauften Haus statt. Die Anziehungskraft selbst ist Madame Marguerite, 'Die Löwenbraut'. Besonders fesselnd war der Serpentintanz im Löwenkäfig; auch die übrigen neuen Spezialitäten dürfen als erstklassig angesehen werden."
Für den 'Artist' stand fest, daß hier entweder ein schlampiger Journalist am Werk gewesen war, der den Besuch der Vorstellung versäumt hatte und schnell etwas zusammengereimt hatte; oder aber, daß mit Wissen der Schriftleitung die Reklame aus der Vorankündigung der Direktion übernommen worden war und damit der 'Erfolg' des Abends bereits vor der Vorstellung feststand.
Die Kinematographie als Bestandteil der standandisierten Berichte aus den Varietés habe ich im ersten Kapitel der Arbeit bereits eingehend dargestellt.
Dennoch konnte mit der Sichtung der entsprechenden Jahrgänge die Regelmässigkeit der kinematographischen Vorführungen in den großen Varietés nachgewiesen werden. In diesen Zeitschriften fanden sich auch die ausführlichen Beschreibungen der sommerlichen Vergnügungen der kleinbürgerlichen Schichten, die die Kinematographie ebenfalls auf ihrem Programm hatten.
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