VERGNÜGEN, POLITIK UND PROPAGANDA:
KINEMATOGRAPHIE IM BERLIN DER
JAHRHUNDERTWENDE (1896-1905)
DISSERTATION
zur Erlangung des akademischen Grades
doctor philosophiae (Dr. phil.)
eingereicht an der Philosophischen Fakultät III der
Humboldt-Universität zu Berlin
von Iris Kronauer, M.A.


Thesen zur Dissertation

(1) Die vorliegende Studie untersucht das Verhältnis von Massenpresse und Kinematographie in den zehn Jahren nach den erstmaligen öffentlichen Filmvorführungen Ende 1895 und im Laufe des Jahres 1896 in Berlin. Anhand der von mir ausgewählten unterschiedlichsten Typen der Berliner Pressepublikationen um 1900 lassen sich dabei zwei Ausgangsthesen für meine Dissertation formulieren:

Analysiert wird das neue Medium der Kinematographie in einem bereits seit längerem existenten Medium der Massenpresse. Die Aspekte dieser 'Intermedialität' bilden einen wichtigen Teil der Dissertation. Sie schließen eine Forschungslücke auf dem Gebiet der Mediengeschichte, die die Intermedialität erst in den letzten Jahren entdeckt und vor allem für die Zeit der Weimarer Republik bearbeitet hat.
Die von mir ausgewerteten Massenpressepublikationen stellen aber zugleich eine vorzügliche Quelle zur Erforschung einer sozial unterschiedlichen Rezeptions- und Mentalitätsgeschichte dar. Hierzu gibt es auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft kaum konsequent durchgeführte Studien für das Kaiserreich. Dies erstaunt um so mehr, als in den letzten Jahren einige neue Gesamtdarstellungen zum Kaiserreich (z.B. T. Nipperdey 1990-92, W.J. Mommsen 1995, H.U. Wehler 1995) erschienen sind. Auch diejenigen wenigen Studien, die Aspekte der Alltags- und Mentalitätsgeschichte ausdrücklich berücksichtigen (z.B. Volker Ullrich 1997), interessieren sich für die Aussagekraft von Massenpressequellen im Hinblick auf eine Mentalitätsgeschichte der kaiserzeitlichen Gesellschaft nicht.

Die Massenpresse erlaubt aber eine Rekonstruktion der gesellschaftlichen und politischen Kontexte des untersuchten Gegenstandes, wie sie in der historischen Forschung zum Kaiserreich bislang nicht vorgelegen hat. Zugleich liegt mit dieser Studie erstmalig eine für einen längeren Zeitraum durchgeführte filmhistoriographische Studie zur Bedeutung der großstädtischen Kinematographie um 1900 in Deutschland vor.

Mit dem Fokus auf der Kinematographie als neues und modernes Medium konnte ich somit erste Aspekte einer noch zu schreibenden Mentalitätsgeschichte des Kaiserreichs zusammentragen, die sich auf mehrere Schichten der Gesellschaft beziehen. Die großstädtische Kinematographie um 1900 war Gegenstand und Ausdruck der unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Sie war Bestandteil politischer, propagandistischer und lebensweltlicher Formationen, die bezüglich der Kinematographie nicht voneinander getrennt waren.

(2) Quellengrundlage der Analyse sind ausgewählte, in großer Auflage erschienene Berliner Tageszeitungen mit unterschiedlichen Zielgruppen (u.a. Berliner Lokal-Anzeiger, Kleines Journal, Fremdenblatt, Berliner Morgenpost) sowie wöchentlich herausgegebene Unterhaltungszeitschriften, die ein (überwiegend weibliches) Publikum der bürgerlichen und adeligen Schichten zur Zielgruppe hatten. Sie bilden den textlichen Kontext, in dem die Position der Kinematographie um 1900 analysiert wird. In den ausgewählten Berliner Tageszeitungen war die Kinematographie eingebunden in die standardisierten Gepflogenheiten der reklametreibenden Vergnügungsindustrie, deren textliche Veranstaltungshinweise einen festen Bestandteil in der Tagespresse ausmachten. Die Präsentation der Varietékinematographie in der Berliner Tagespresse beschränkte sich auf die Erwähnung weniger, nachrichtenwerter Filme. Sie waren gebunden an politische oder gesellschaftliche Ereignisse, die ihrerseits Gegenstand der Erörterung in der Presse waren.
Die illustrierte Wochenpresse (Woche, Berliner Illustrirte Zeitung, Illustrirte Zeitung) und die Illustrierten Satireblätter (Ulk, Lustige Blätter) bildeten den bildlichen Kontext der Kinematographie in der Massenpresse.

(3) Kinematographie der politischen Ereignisse war abhängig von der jeweiligen politischen Ausrichtung und damit der Zielgruppe der Tageszeitungen. Bei besonders herausragenden politischen Ereignissen (z.B. die Reise des Prinzen Heinrich in die USA 1902) wurden in einigen Tageszeitungen auf die filmische Präsentation hingewiesen. Die standardisierten Textformen der reklametreibenden Vergnügungsindustrie wurden dabei entsprechend redaktionell bearbeitet.

(4) Die gesichteten - meist wöchentlich - erscheinenden Unterhaltungsblätter (Berliner Damen-Zeitung, Illustrirte Frauen=Zeitung, Adels- und Salonblatt) dagegen konzentrierten sich auf die Kinematographie als Ausdruck und Gegenstand des Vergnügens in den großen Varietés und an den Treffpunkten der Berliner 'Gesellschaft'. Politisch aufseheneregende kinematographische Vorführungen waren in diesen Blättern ebenfalls Gegenstand der Erörterung. (z.B. Darstellungen des Transvaalkrieges). Im Mittelpunkt stand dabei deren Vergnügungswert, sie trugen aber auch die politische Haltung der adelig-bürgerlich Schichten weiter. Diese Unterhaltungsblätter waren überwiegend auf eine exklusive weibliche Leserschaft der besseren Kreise hin ausgerichtet und präsentierten die Kinematographie im Kontext von Mode, Feuilleton, Küche etc. Hiermit konnte erstmalig ein bürgerliches und adeliges Publikum als Publikum der Jahrhundertwendekinematographie analysiert werden.

(5) Mit der Analyse von zeitgenössischen Satireblättern (Fliegende Blätter, Ulk) ließen sich sowohl die Thematisierungen der Kinematographie um 1900 als auch ihre Einbindung in die Kommentierung politischer, sozialer und technischer Entwicklungen bestimmen (z.B. Transvaal- Krieg, Reise des Prinzen Heinrich in die USA).

(6) Die wöchentlich publizierten Schausteller- und Artistenzeitschriften 'Komet' und 'Artist' wurden hauptsächlich im Hinblick auf die Berliner Situation ausgewertet. Hierbei konnten erstmalig Quellen zum Publikum bei den popularen - oftmals sommerlichen - Veranstaltungen präsentiert (Hasenheide) werden. Beispielhaft konnte zudem anhand der in diesen Zeitschriften geschalteten Geschäftsanzeigen Einblick geboten werden in den frühen Filmmarkt und die frühe Filmproduktion. Sie geben erste Hinweise auf die Internationalität der frühen Filmwirtschaft im kaiserlichen Deutschland.

(7)Kinematographie im Berlin der Jahrhundertwende war Bestandteil großstädtischer Vergnügungskultur, die alle Schichten der Gesellschaft umfaßte. Die von einem großen Teil der filmhistorischen Forschung bis heute aufrechterhaltene - und für die Anfangsjahre niemals quellennah überprüfte - These von den ausschließlich proletarischen bzw. plebejischen (z.B. Faulstich/Korte, 1994) Anfängen der Kinematographie ist nicht zutreffend.

(8) Kinematographie der Jahrhundertwende hatte überwiegend ephemeren Charakter. Bis auf wenige ständige Abspielstätten in größeren Varietés Berlins war die filmische Präsentation und Rezeption an zeitlich begrenzte Veranstaltungen und wechselnde Orte gebunden.

(9) Kinematographie der Jahrhundertwende war immer Kontextgebunden. Sieht man von den euphorischen, aber kurzlebigen Berichten nach den ersten Filmvorführungen 1895/1896 und der Einführung der Tonbilder 1903 ab, die das neue technische Medium in der Tradition der Technikbegeisterung des 19. Jahrhunderts beschrieben, war die Kinematographie stets Bestandteil unterschiedlicher sozialer und programmatischer Zusammenhänge.

(10) In den großen Varietés Berlins bildete ein meist gehobenes Publikum das Publikum der Kinematographie. Als Bestandteil großstädtischer Vergnügungskultur gehörte der Varietébesuch während der Woche zum standardisierten abendlichen Vergnügungsrepertoire der bürgerlichen und adeligen Schichten beiderlei Geschlechts. An den Wochenenden gab es dort ein weniger betuchtes Publikum. Die großen Berliner Varietés waren Bestandteil des Vergnügungsprogramms der Berlin-Touristen.

(11) Bei den Varietévorführungen war die Kinematographie im angebotenen Spezialitätenprogramm die klassische Schlußnummer. Im 'Apollo' gab es auf Grund der Integration der 'Berliner Operette' in das Programm etliche Versuche, die Spezialitäten - und damit die Kinematographie - im Programmablauf anders zu positionieren. Diese konnten sich allerdings nicht auf Dauer durchsetzen.

(12) Die Kinematographie im Kontext der Wohltätigkeitsveranstaltungen war gebunden an gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen während des 19. Jahrhunderts, die zu einer Annäherung der alten adeligen politischen und militärischen Eliten und der aufstrebenden bürgerlichen Schichten geführt hatte. Diese Annährungen waren natürlich nicht konfliktfrei verlaufen. In der 'geselligen Öffentlichkeit' der von den weiblichen Angehörigen dieser Schichten maßgeblich getragenen Veranstaltungen - und medial vermittelt durch zahlreiche Publikationen - entstand in der Reichshauptstadt um 1900 das Bild einer neuen, großstädtisch-modernen, konfliktfreien und toleranten gesellschaftlichen Elite. Diese Elite bildete einen Teil des Publikums der Kinematographie um 1900.

(13) Eine Hochzeit der Wohltätigkeitsveranstaltungen gab es in der jährlich wiederkehrenden 'Ballsaison' von Anfang November bis Ende Februar /März des darauffolgenden Jahres. Dazu kamen Veranstaltungen aus gegebenen Anlaß. Die Wohltätigkeitsveranstaltungen waren zum einen abhängig von den Ehrenämtern der Organisierenden. Diese saßen zahlreichen unterschiedlichen Vereinen und Komiteés vor, deren Zweck die Wohltätigkeit war oder zu deren Gunsten Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert wurden. Zum anderen waren die Veranstaltungen abhängig von den Katastrophen, deren nachfolgende Not sie lindern helfen sollten. (So gab es anläßlich der Überschwemmungskatastrophe in Sachsen und Österreich von 1897 eine Wohltätigkeitsveranstaltung im Belle-Alliance Theater, bei denen die 'Lebenden Photographien' aus den Überschwemmungsgebieten gezeigt wurden.)

(14) Die Präsentation und Rezeption der Kinematographie um 1900 auf diesen Veranstaltungen war somit zunächst gebunden an Elemente und Bedingungen eines traditionellen höfischen Lebensstils (Ballsaison, Wohltätigkeit, Laiendarstellungen). Dieser hatte um 1900 jedoch zunehmend an Exclusivität verloren und öffnete sich für die bürgerlichen Schichten. Durch die mediale Vermittlung dieser Veranstaltungen entstand darüber hinaus deren weitreichende öffentliche Wirkung. Gleichzeitig gab es eine Anbindung an Formen der modernen großstädtischen, kommerzialisierten Unterhaltungskultur, die ihrerseits die Kinematographie als Bestandteil ihrer Programme kannte.

(15) Im Kontext dieser Veranstaltungen war die großstädtische Kinematographie räumlich gebunden an die unterschiedlichsten Lokalitäten. Sie umfaßte etablierte Varietés der Reichshauptstadt - die von den Direktoren für die Feste zur Verfügung gestellt wurden - ebenso wie die etablierten und traditionsreichen Veranstaltungsorte der 'Berliner Gesellschaft' bei 'Kroll' und in den Kaisersälen.

(16) Bei den Wohltätigkeitsveranstaltungen wurde in den Unterhaltungsprogrammen häufig ein 'Spezialitätenprogramm' geboten, dessen Form der sich schnell aneinanderreihenden Nummernfolge aus den hauptstädtischen Varietés und anderen Spezialitätentheatern bekannt war. Die Kinematographie war oftmals Bestandteil dieser Programme. Anders als in den Varietés kam es hier jedoch zu anderen Nummernkombinationen und die Kinematographie stand nicht ausschließlich auf dem letzten Programmplatz. Bei diesen Veranstaltungen gab es zudem Auftritte von Angehörigen der 'Königlichen Schauspiele', die abwechselnd mit den Nummern - wie sie aus den Varietés geläufig waren - das Programm gestalteten. Außerdem traten Mitglieder der 'Gesellschaft' als Laien auf und waren somit Bestandteil dieser Programme.

(17) Diese neuartigen Kombinationen von Varieténummern - zu denen auch die Kinematographie gehörte - und gesanglicher und deklamatorischer Präsentation von Angehörigen der 'Königlichen Schauspiele' ist darauf zurückzuführen, daß die Organisatorinnen und das zu erwartende Publikum mit beiden Formen der großstädtischen Unterhaltungskultur vertraut waren. Sie saßen im Publikum der 'Königlichen Schauspiele' und auch der reichshauptstädtischen Varietés. Die adeligen Laiendarstellungen selbst kannten eine lange höfische Tradition.

(18) Um 1900 führte man auf den Wohltätigkeitsveranstaltungen der 'Guten Gesellschaft' diese Formen des Vergnügens und der Unterhaltung in immer wieder neuen Kombinationen für eine kurze Zeit zusammen.

(19) Die Zusammenstellung der Programme übernahmen sowohl Angehörige der Hofgesellschaft, die ihren höfischen Funktionen (z.B. Oberhofmarschall) entsprechend eingesetzt wurden, als auch die Direktoren der großstädtischen Bühnen.

(20) Kinematographie als Mittel der politischen Propaganda wurde um die Jahrhundertwende vom 'Deutschen Flottenverein' massiv und reichsweit eingesetzt. Der 'Deutsche Flottenverein', war u.a. von führenden Industriellen der Zeit 1897/98 gegründet worden. Der Anspruch des 'Deutschen Kaiserreichs', im Reigen der imperialistischen Mächte der Zeit seinen 'Platz an der Sonne' zu erlangen- und eine starke Flotte war hierfür unabdingbar - hatte bereits seit dem Amtsantritt Kaiser Wilhelm II zu verstärkten Anstrengungen im Flottenbau geführt. Mit dem Amtsantritt des Admiral Alfred von Tirpitz 1897 zum Staatssekretär im Reichsmarineamt aber begann erst der planmäßige Aufbau der - maßgeblich gegen die 'alte' Seemacht England gerichteten - deutschen Flotte, mit letzlich den 1. Weltkrieg mit auslösenden Folgen.

Wie das 'Nachrichtenbureau' des Reichsmarineamtes bediente sich der 'Deutsche Flottenverein' moderner Propagandamittel - die vor allem auch neuere Formen der visuellen Propaganda umfaßten - um das Bewußtsein für eine starke Flotte in der Bevölkerung zu heben. Dazu gehörte der Einsatz von Plakaten, Lichtbildern und kinematographischen Vorführungen über die Marine und das Seeleben im Allgemeinen. Der Flottenverein - der reichsweit untergliedert und der mitgliederstärkste der nationalistischen Verbände des Kaiserreichs war - hatte natürlich auch in Berlin eine Verbandsgliederung.
1900 kam es in der Reichshauptstadt zur Gründung zahlreicher Bezirksausschüsse des Vereins und dessen Massenbasis vermehrte sich rasch.
Entscheidend für die Kinematographie in diesem Kontext ist ihre Vorführung bei unterschiedlichen Veranstaltungen des Vereins. Diese umfaßten Wohltätigkeitsfeste, aber auch Sommer- und Winterfeste des Vereins.
Die niedrigen Eintrittspreisen verweisen eindeutig auf die populistische Zielorientierung des Flottenvereins und gaben den Veranstaltungen der Flottenfreude auch in der sozialen Zusammensetzung ein grundsätzlich anderes Gepräge als die Wohltätigkeitsveranstaltungen der 'Guten Gesellschaft'.
Das kleinbürgerliche bis bürgerliche Publikum dieser Feste bildete einen Teil des Publikums der Kinematographie um 1900.

(21) Bei den Veranstaltungen des Flottenvereins wurde dem Publikum ein thematisch meist auf die Flotte oder auf die kriegerischen Entwicklungen der Zeit zugeschnittenes Programm geboten. Man inszenierte dabei nationalistische, bürgerliche Feste, die den zahlreichen Besuchern u.a. Militärkonzerte boten und ihnen zahllose marinebezogene Produkte zum Kauf anboten. Die Kinematographie war im Kontext dieser Programme mit Aufnahmen der Marine, Schiffen. etc. beteiligt.

(22) In den Brauereien und Sommergärten, die punktuell Filmvorführungen anboten, bestand das Publikum aus Kleinbürgern; z.B. Handwerkern.

(23) Die großstädtische Kinematographie um 1900 hatte kein spezifisches Zielpublikum. Die Varietékinematographie, die Filmpräsentation auf den Veranstaltungen der gesellschaftlichen Eliten und die Vorführungen in den Sommergärten und Brauereien wurden sämtlich als Bestandteile von vielfältigen Nummernprogrammen geboten. Eine Ausnahme bildete der 'Deutsche Flottenverein'. Im Rahmen der propagandistischen Aktivitäten der Organisation waren die kinematographischen Vorführungen Teil des thematisch gebundenen Konzepts.