Es ist kaum retrospektiv zu bestimmen, ob diese kaiserkritischen Stimmen die zeitgenössischen kaiserverehrenden Einstellungen aufwogen, die durch Feste wie den Kaisergeburtstag - der reichsweit am 27. Januar mit großen Umzügen in Stadt und Land begangen wurde - hergestellt wurden. Zumindest kann an dieser Stelle festgehalten werden, daß beide Einstellungen von Angehörigen auch der oberen Schichten mitgetragen wurden. Möglicherweise bestanden sie auch parallel.

Als ein weiterer wichtiger Anhaltspunkt für eine sehr starke kaiserkritsche Haltung der wilhelminischen Gesellschaft kann die Englandfeindschaft der Deutschen gelten. Um die Jahrhundertwende war mit dem Transvaalkrieg und mit der Parteinahme der gesamten deutschen Öffentlichkeit für die Buren die reichsdeutsche Englandfeindschaft auf ihrem Höhepunkt. Der Kaiser, mit seiner englischen Verwandtschaft, auf die er politisch Rücksicht nehme wollte, geriet mitsamt der Reichsregierung im Zuge dieser Auseinandersetzungen mehrmals massiv in die öffentliche Kritik.

Vor allen Dingen hatte das zeitgenössische Publikum - vermittelt durch Karikaturen und Witzblätter, die sich oftmals an die oberen Schichten richteten - auch ein visuell kritisches Kaiserbild vor Augen, bevor die ersten kinematographischen Bilder 'seiner Majestät' als Bestandteil eines Nummernprogramms in den Varietés gezeigt wurden.
Die Darstellung der kaiserlichen Reise nach Palästina in der 'Damen-Zeitung'- die sich mittels der Beschreibung der kinematographischen Darstellungen einzelner Reisestationen zwar nicht gänzlich der Kritik an der Fahrt Wilhelms II. enthielt, legte ihren Schwerpunkt auf deren touristischen Aspekt und deren Schauwert. Die Beschreibung der kinematographischen Bilder betonte den bereits Eingangs erwähnten gelungenen filmischen Ersatz für die zu Hause Gebliebenen und deren Einbindung in das gelungene Programm eines der größten und bekanntesten Berliner Varietétheater. Deren Publikum bestand - wie bereits erwähnt - um die Jahrhundertwende größtenteils aus Angehörigen der oberen sozialen Schichten. Wohl überwiegend weibliche Angehörige dieser Schichten bildeten auch die Leserschaft der 'Berliner Damen-Zeitung'.

Die ausführliche Beschreibung der kinematographischen Bilder der Palästinareise waren dabei zunächst Bestandteil der immensen zeitgenössischen Pressereaktionen. Die schicht- gattungs- und geschlechtsspezifische Orientierung der 'Berliner Damen-Zeitung' spiegelte die filmischen Vorführungen aus Palästina darüberhinaus in einer üblichen sozialen Praxis ihrer Zielgruppe. Sie waren Bestandteil des in diesen Kreisen für beide Geschlechter üblichen Varietébesuchs.

Sie griff dabei aber auch die soziale Praxis des seit den den 90er Jahren auch im 'Deutschen Reich' beliebten Orienttourismus. Angehörige der oberen sozialen Schichten waren diejenigen, die sich vor dem 1. Weltkrieg Fernreisen überhaupt leisten konnten. Die zahlreichen Reisen des deutschen Herrschers trugen dabei ebenso zur Popularisierung des Reisens bei. Die Orientreisen gehörten bis zum 1. Weltkrieg zu den beliebtesten Zielen einer betuchten Klientel.

Die Beschreibung der kinematographischen Vorführungen als touristisches Vergnügen konnten dabei nicht nur die potentiellen und tatsächlichen Reiseerfahrungen der Leserinnen der Damen-Zeitung in Beziehung setzen zur aktuellen Reise des deutschen Herrschers. Sie hatte auch einen realen Hintergrund in der Teilnahme zahlreicher Angehöriger der 'Berliner Gesellschaft' an der kaiserlichen Palästinafahrt.

Abgesehen von den 171 offiziellen Fahrtteilnehmern aus dem In- und Ausland, zu denen die Vorstände der in Palästina anwesenden Stiftungen, Vereine und Gesellschaften ebenso wie alle deutschen evangelischen Kirchenregierungen und hohe Vertreter ausländischer protestantischer Kirchengemeinschaften gehörten - fuhren auf vier weiteren Schiffen 270 nichtoffizielle adelige und bürgerliche Teilnehmer mit ins 'Heilige Land'.
Die Reise dieser Gäste war organisiert worden von den bekannten Reisebüros Carl und Hugo Stangen in Berlin, die mit vier gecharterten Schiffen den offiziellen Reisetroß begleiteten. Auf der Reise dabei war auch Georg Betz, Partner des deutschen Filmpioniers Oskar Messter, der die Filmaufnahmen bewerkstelligte und auch der Erbauer und Besitzer des Varieté Apollo, Baumeister Ziegra mit Gattin.

Gut möglich ist dabei, daß der auf der Liste der inoffiziellen Fahrtteilnehmer stehende Ziegra wegen der kinematographischen Aufnahmen der Reise mit ins 'Heilige Land' gefahren war. Im 'Apollo' kamen ja die Bilder zur Aufführung. Sie hatten ihren stärksten Widerhall im Januar 1899 in der 'Damen- Zeitung'. Tageszeitungen wie die 'Berliner-Morgenpost' berichten wie üblich knapp unter der Rubrik 'Vergnügungen' von den Vorführungen:

    " ...aber auch dem ernsteren Genre wird durch Kosmograph-Vorführungen der Palestina-Reise unseres Kaiserpaares Tribut gezollt."

Leider sind Filme der Palästinareise nicht mehr erhalten und auch eine Rekonstrukrion des genauerern Programmkontexts im Varieté Apollo läßt sich auf Grund der mir vorliegenden Quellen nicht vornehmen. Die Rezeption der Vorführungen in der 'Berliner Damen- Zeitung' bezeugen - wie gezeigt - die kosmographischen Vorführungen der Palästina-Reise als herausragendes Ereignis im Programm des Apollo; gebunden an die Zielgruppe einer Unterhaltungszeitschrift für Frauen der oberen Gesellschaftsschichten.

Filme der kaiserlichen Reise nach Palästina wurden natürlich auch vor den kaiserlichen Herrschaften selbst vorgeführt. Sie fanden z.B. Aufnahme in das Programm, das Oskar Messter anläßlich des Kaisermanövers 1899 für die Majestätsunterhaltung - und auch für die Unterhaltung der Karlsruher Bürger - zusammenstellte.

Anders als in der abwechselungsreichen unterschiedliche Genres präsentierenden Nummernfolge in einem Varieté, bezogen sich die in Karlsruhe gezeigten Filme alle auf maritime Themen. Das Bild 'Constantinopel mit altem Text', das eine Reisestation auf dem Weg in den Orient zeigte, wurde eingerahmt von "1. [dem] Hafen in Breth, 2. Meine[r] junge[n] Marine, 3. [einem] Hindernisrennen an Bord, 4. [dem] Stapellauf SMS Hertha, 5. [der] Brandung bei Dover während der letzten Stürme, 6. [den] 3 Dortmund-Bildern, 7. Hohe[r] See, Meteor, Vulkan, [...]".

Die Filme der Kaiserreise waren also noch recht lange nach Rückkehr des Reisegesellschaft im Dezember 1898 im Umlauf und korrespondierten dabei offensichtlich mit anderen medialen Verarbeitungen der Reise; aber auch mit den anhaltenden politischen Debatten über die Reise nach der Rückkehr des Monarchen und seiner Gattin.

Der bekannte Berliner Photograph Ottomar Anschütz fertigte Photographien der Reise an ebenso wie die Kaiserin, die eine begeisterte Hobbyphotographin war und wie viele Angehörige der Berliner Gesellschaft von Anschütz in die Photographie eingewiesen worden war.

Anschütz' Orientphotographien wurden u.a. auf der Berliner Kunstausstellung von 1899 gezeigt. Bei dieser Ausstellung, die zahlreiche Gemälde der die Fahrt begleitenden Maler präsentierte, wurden damit erstmalig Photographien in einer Schau aufgenommen, die bis dahin der sogenannten 'Hohen Kunst' vorbehalten worden war. Anschütz zeigte natürlich dem kaiserlichen Paar seine Photographien bei einer Audienz persönlich und kündigte bei dieser Gelegenheit an, die Photographien im Rahmen von Lichtbildervorträgen - die in einem der königlichen Schauspielhäuser zur Darstellung kommen sollten - für wohltätige Zwecke zur Verfügung zur stellen. Die Kaiserin gab ihre Photographien ebenfalls für einen wohltätigen Zweck her.

Corinna Müller hat für Hamburg die Darstellung der Reise zudem im Kaiser-Panorama der Stadt hervorgehoben ebenso wie Varietévorführungen im 'orientalischen' Stil und die Filmvorführungen der Reise in 12 Bildern.

Doch sämtliche Vorführungen fanden etliche Zeit nach der Reise statt und nicht - wie Müller annimmt - während der Fahrt. Diese dauerte vom 12. Okober bis zum 26. November 1898. Die Vorführungen im Kaiser-Panorama fanden erst ab Anfang Februar 1899 statt; die Filmvorführungen gab es Ende des Monats. Es steht zu vermuten, daß auch die anderen Aktualitätenfilme der Jahrhundertwende noch lange nach dem Ereignis, das sie in Originalbildern oder auch in nachgestellten Szenen wiedergaben , im Umlauf waren und oftmals wohl auch mit anderen medialen Umsetzungen der Ereignisse konkurrierten.

Über die Gründe lassen sich an dieser Stelle lediglich Vermutungen anstellen. Bei den spektakulären Auslandsreisen des Kaisers nach Palästina und auch seines Bruders in die USA Anfang 1902 werden die Dauer der jeweils mehrwöchigen Reisen, die damit verbundenen Transportwege und die unterschiedlichen Produktionswege eine Rolle gespielt haben.

Es ist nach wie vor so gut wie nichts bekannt über die Anzahl der Kopien bei diesen Filmen aus der Anfangszeit und inwieweit die Kopienweitergabe z.B. unter den großen Varietés üblich war. Das z.B. hätte den Abspielzeitraum bedeutend verlängert. Für die Kinematographie der ersten Jahre kann aber angenommen werden, daß die Filme bis zum Verschleiß abgespielt worden sind. Die Vorführungen orientierten sich demnach nicht unbedingt an Bedürfnissen der Tagesaktualität. Darauf weisen Annoncen im 'Komet' und 'Artist' hin. Hier wurde schon früh ein Handel mit gebrauchten Filmen begonnen und damit blieben auch die 'Aktualitätenfilme' recht lange im Umlauf.

Normal war aber wohl bereits 1898 - und dies schien das Publikum zu erwarten - daß die Aktualitätenfilme schnell nach den Ereignisssen zur Verfügung standen.Anders ließe sich die Ungeduld mancher Zeitgenossen angesichts verspätet stattfindender kinematographischer Vorführungen der Kaiserreise nicht verstehen.

In einem Bericht über das Wintergartenprogramm im Dezember 1898 hatte etwa der Kommentator abschließend enttäuscht bemängelt, daß "der Kosmograph [...] die Palästina-Bilder [immer noch nicht] auf der Platte hat".

Die mir vorliegenden Schausteller - und Artistenzeitschriften 'Komet' und 'Artist' verzeichneten in ihrem Annoncenteil keine Hinweise auf einzelne Filme der Kaiserreise. Bis zum Jahr 1900 hatte es zwar in etlichen europäischen Städten Filmvorführungen in Varietés gegeben. Dies läßt sich aus den Städteberichten im 'Artist' ersehen. Die Schaustellerkinematographie war bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch recht bescheiden.

Unter den ca. 520 Abonennten des 'Komet', die dem Schaustellergewerbe angehörten, waren zu Beginn des Jahres 1900 7 Kinematographenbesitzer, von denen nur 3 das Risiko eingegangen waren, den teueren Kinematographen als alleinigen Broterwerb zu haben. Die anderen vier hatten neben dem Kinematographen auch andere Geschäfte.
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