1.2 Das Publikum

    "Wenn der Biograph die neuesten lebenden Photographien auf die Leinwand geworfen und Kapellmeister Wanda den schneidigen Schlußmarsch dirigiert hat, geht man vergnügt und gut gelaunt je nach Rang und Steuerrang zum Souper oder zum Abendbrot. Kein Wachmeistermord an der eigenen Tochter, kein Kindesmord einer Rose Bernd an ihrem unehelichen Spößling bedrückt die Gemüter. Nach der Arbeit des Tages hat man sich amüsiert und die Sorgen vergessen. Das ist das Geheimnis des Erfolges der Spezialitätentheater. Und in diesem Sinne wird auch das Dezemberprogramm des Wintergartens bei den Weihnachtsvergnügungen der Berliner eine führende Rolle spielen."

Der wöchentlich erscheinende 'Roland von Berlin,' nach eigenem Bekunden die 'Zeitschrift für das Berliner Leben' , beschrieb am Beispiel des 'Wintergarten' den Erfolg der Spezialitätentheater in der Möglichkeit der Ablenkung von Sorgen und Nöten durch das 'Amüsement'; durch das schlichte Vergessen des Alltags angesichts des angebotenen vielfältigen Nummernprogramms. Auch wenn hier stellvertretend für den Alltag die neusten, vor allem durch die Massenpresse vermittelten sensationsträchtigen Vorkommnisse in der Reichshauptstadt, wie der 'Wachmeistermord an der eigenen Tochter' oder der Fall 'Rose Bernd' standen, und dabei eine ausgeprägte journalistische Wahrnehmung des Alltags zum Vorschein kommt, kann der Hinweis des 'Roland' auf die Funktion der Speziliätentheater als paradigmatisch gelten für andere von mir gesichtete zeitgenössischen Publikationen. Wie bereits einleitend erwähnt, waren für die Beschreibung der Publikumsstruktur in den großen Varietés vor allem die Unterhaltungsblätter der oberen bürgerlichen Schichten und des Adels ergiebig. Die Angehörigen dieser Schichten machten ein großen Teil des Publikums dort aus und ihre Unterhaltungspublikationen reflektierten die Programme, aber auch das soziale Verhalten von Angehörigen dieser Schichten an diesen Orten. Blätter wie die schon mehrfach zitierte 'Berliner Damen-Zeitung' machen zudem den gleichberechtigen Anteil der Frauen aus den oberen Schichten am Publikum in den großen Varietés der Jahrhundertwende deutlich. Der 'Roland von Berlin' hatte bereits auf eine soziale Differenzierung des Publikums hingewiesen: "je nach Rang und Steuerklasse" ging man "zum Souper oder zum Abendbrot". Die anderen mir vorliegenden Quellen deuten ebenfalls darauf hin, daß trotz der hohen Eintrittspreise im 'Wintergarten' und im 'Apollo' gelegentlich auch Angehörige mit kleinerer Geldbörse zum Publikum gehörten. Die Eintrittspreise im ca. 2000 Personen fassenden 'Wintergarten' betrugen für die Logen - und Terassenplätze 6 Mark, in den Seiten-Terassen und für das Parkett-Fauteuil 4 Mark, für das Fauteuil 3 Mark, für einen reservierten Platz 2 Mark und im Entree 1 Mark. Das kleinere 'Apollo' verlangte von seinen Gästen nicht viel weniger; bot Ihnen aber eine diffenziertere Preisgestaltung in den etwas niedrigeren Preisklassen: Für die Prosceniums- Fremden und Orchesterlogen verlangte man dort 5.50 Mark, für die Parkett und 1. Rang-Loge (Mitte) bezahlten die Besucher 4,20 Mark, für das Orchester-Fauteuil 3,50 Mark, die 1. Rang-Loge (Seite) kostete 3,20 Mark, für das 1. Parkett wurden 2,70 Mark verlangt, für das 2. Parkett und das Rang-Fauteuil bezahlte man 2,20 Mark, der reservierte Platz kostete 1,50 Mark (Sonntags 2 Mark) und auch hier mußte man für die Entréeplätze 1 Mark aufbringen. Der billigste Platz in den beiden großen Varietés kostete damit immer noch mehr als der Standardeintrittspreis der zahllosen kleineren und Varietés, Tingel-Tangel und Festsäle, die um 1900 zwischen Friedrichstraße, Alexanderplatz und Luisenstraße in Berlin ihre Blütezeit hatten. Eine große Zahl dieser Spezilitätenbühnen verlangte überhaupt keinen Eintritt, bei den anderen lag der Preis unter einer Mark.
Die Preisgestaltung der großen Varietés läßt die Annahme zu, daß das Publikum aus den höheren Schichten dort dominierte; nur diese konnten sich die teuren Eintrittspreise leisten. Für weniger Betuchte kam wohl nur gelegentlich ein Besuch im 'Wintergarten' oder im 'Apollo' in Frage.
In den teuren Berliner Varietétheatern der Jahrhundertwende, zu denen die hier vorgestellten gehörten und die die Kinematographie zu ihren festen Programmpunkten zählten, gab es demnach ein Sonntag- und ein Wochentagspublikum:

    "Das "Berliner Varietée=Theater" unterscheidet sich, seiner eigentlichen Bestimmung und seinem Publikum nach, eigentlich je nach der Zeit. Hier findet man ein Sonntags- und ein Wochentags=Publikum. Das Sonntags=Publikum nimmt die gebotenen Genüsse gewissermaßen ehrbar entgegen. Gewiß, dieses Publikum kommt auch, um zu lachen, und lacht herzlich, unaufhörlich. [...] ihm soll es (das Varietee=Theater, I.K.) am Sonntag Abend das sein, was den Gebildeten die Oper, das Schauspiel oder die Operette. Das Sonntags=Publikum in den Variete=Theatern setzt sich eben aus Besuchern zusammen, die allwöchentlich nur einmal für eine derartige Erholung das nöthige Geld und die nöthige Zeit erübrigen können, und die dann wieder durch sechs Tage an ihren Beruf gefesselt sind. Anders das Publikum in den Wochentagen. Es setzt sich zusammen aus Offizieren in Civil, den Geld und Finanz-Aristokraten, aus Studenten und der jeunesse dorée im Allgemeinen.[...] Wie gesagt, das Sonntags= und Wochenendtags=Publikum in den Varieté=Theatern ist vollkommen voneinander geschieden. Sonntags vorherrschend der Bürgerstand, an Wochentagen die oberen Zehntausend oder die jungen Leute, welche beneidenswerth in der Wahl ihrer Eltern einst sehr vorsichtig waren."

Obgleich die Varietés für ihre Programme berühmt waren und die Direktionen alles daran setzen, dem verwöhnten Berliner Publikum ("Der Berliner will immer n e u e Darbietungen, er fliegt auf jede neue Sache, wie ein Kind auf ein neues Spielzeug" ) zu bieten, waren diese auch Orte sozialer Kommunikation des abendlichen Publikums. Dies beschrieb anschaulich ein Beitrag des 'Adels - und Salonblatts', der auch das Publikum weiter ausdifferenziert:

    "Das einzige Theater, in dem man Aristokratinnen neben Modehorizontalen, Offiziere in Uniform neben kleinen Grisettengebäck, - Herren in Frack und Smoking neben einem nobel sein wollenden Commis, der seine Geliebte einmal in was 'Feines' führt, unauffällig in den roten Sammtlogen zu sechs Stühlen zusammen und nebeneinander sitzen sieht, ist das in echt franzöischem Varietés-Styl gehaltene Apollo=Theater. Wenn sich der Wintergarten durch größere Gemütlichkeit an den Biertischen auszeichnet, trägt das Apollo=Theater das ein entschieden destinguirteres Gepräge und ein niemals anstößiges Halbweltparfüm, das niemals die Damen der Welt chokirt, und die Herren nur reizt. Die Atmosphäre, das Gewoge des Publikums hier ist entschieden prickelnder und intimer als in dem riesigen Wintergarten-Auditorium. Im Parkett, hinter fünf Sitzreihen, finden wir auch das Biertisch=Arrangement, wie dort, das sich weit unter das Büffet des ersten Ranges, nach den Eingängen zu, hinzieht; so finden wir auch neben jedem Logensitz einen eigens angebrachten Untersatz für Biergläser und an den Seiten der Logenwände ovale Aschbecher.Die mit Läufern belegten Treppen zu beiden Seiten führen in die drei Foyers=Salons, in deren jedem ein Buffet aufgestellt ist mit obligater Sektdamen=Schönheit, wie im Lindentheater seligen Angedenkens, - die, wie alle ihre Colleginnen, im reinsten Wienerisch, mit riesigen Boutons in den Ohren und Diamanten auch sonstwo, exorbitante Preise für das kleinste Gläschen Liqueur nehmen: und wir Männer sind so dumm und geben es. Sie lächelt süß mit zwei Reihen blendend weißer Zähne, lispelt süße Schmeichelworte mit Augenaufschlag von unten nach oben, - denkt sich "Schafskopf"!, - und der Geliebkoste zahlt mit Wonne. Zum Glück sind es meist Grünlinge oder schwere Goldfische, die auf diese Manöver hereinfallen. Der Bonvivant von Beruf schreitet in langem Gehrock, die Hände in den Hosentaschen, Veilchen im Knopfloch, mit vornübergebeugter Haltung auf Lackstiefeln lautlos über den dicken Smyrner, macht auch das Manöver mit dem von untern nach oben blicken, läßt höchstens das Monocle fallen, wenn er eine ihn langweilende "Gewesene" erblickt. Besonders in der Pause kann man diese Revue beobachte; und das alles gleitet so lautlos, so still über die Teppiche, so müd und doch so lebensathmend. Darüber der Duft der zum Verkauf gebotenen Veilchen und Maiblumen, daß man sich in einer gewissen wohlig-träumenden Stimmung nicht erwehren kann. Alles Chic, Elegance,- nie ein Verletzen der dehors und des bon ton."

Mindestens ebenso wichtig wie das Programm, dies vermittelt die vorstehende Beschreibung sehr genau, war für das Publikum in den großen Spezilitätentheatern das Ambiente, das mögliche Zusammentreffen verschiedener sozialer Schichten, die Atmosphäre des Flirtens und der gediegenen Eleganz beim Vergnügen der gehobenen Art. Im Vergnügungsviertel Berlins gelegen, das sich vor allem in der Friedrichstraße zwischen der Leipziger- und der Dorotheenstraße befand und die 'Linden', die Königstraße sowie die Friedrichstraße zwischen Weidendammer Brücke bis zum Oranienburger Tor umfaßte, waren die beiden großen Varietés zudem meist Ausgangspunkt für weitere nächtliche Vergnügungen. Die männliche Publikum der 'oberen Zehntausend' konnte sich von dort, nach Beendigung der Vorstellungen um ca. 22.30 Uhr, aufmachen in das nächtliche Vergnügen, das die zahlosen Lokale der umgebenden Vergnügungs- und Restaurationsindustrie boten.
Ein anders Bild als das Varietépublikum bot das Publikum in dem beliebten Berliner Ausflugsziel 'Hasenheide'. Auch hier waren, wie gezeigt, kinematographische Vorführungen gelegentlich Bestandteil des dort gezeigten Riesenvarietéprogramms. Das hauptsächlich sommerliche abendliche und sonntägliche Vergnügen bot zehntausenden Berlinern ein beliebtes Ausflugsziel. Das "Vergnügungsbedürfnis der großen Masse" wie der Berichterstatter des 'Artist' meinte, "unter den vielfachen Erscheinungen der Weltstadt [...] eines der interessantesten Gebiete" konnte dort genau studiert werden.
Im Zuge der Stadterweiterung seit der Reichseinheit hatte die ehemals außerhalb Berlins gelegene Hasenheide des 'Turnvaters Jahn'- und schon zu dieser Zeit beliebtes Ausflugziel des Berliner Publikums - um die Jahrhundertwende eine starke Veränderung erfahren. Nunmehr verband ein großer "Prachtboulevard" den Blücherplatz bis zum aufstrebenden Stadtteil Rixdorf. Hier reihte sich ein Gartenlokal an das andere und große Brauereien, wie z.B. die Unions-Brauerei und Happoldts Brauerei hatten dort ihre Gärten. Die 'Neue Welt' in der Hasenheide 108-114 bot ein ausgedehntes Unterhaltungsprogramm. In dem "Riesenkomplex mit uralten Baumbestand", so der 'Artist' in seinen weiteren Ausführungen war "so ziemlich alles vorhanden[...] was sich die moderne Grosstadtmasse wünschen kann. Und das Ganze ist zugleich ein Merkmal dafür, dass für billigstes Geld kolossal viel geboten werden kann, wenn es sich um zehntausende von Menschen handelt." Das Varietéprogramm war hier ein Bestandteil der Vergnügungen, die zudem ein tägliches Konzert, ein wöchentliches Kinderfest, ein wöchentliches Doppel-Konzert sowie ein "Monstre-Feuerwerk" gehörten und gelegentlich wurde auch hier der Kinematograph vorgeführt. Dies vor einem Publikum das zum größten Teil aus dem "kleinen Bürger- und Handwerkerstand" kam. Auch hier waren die Vorführungen - noch stärker als in den Varietés - Teil eines größeren Programms und zahlreicher anderer Vergnügungen, die das Publikum dort genoß.

    "Sie (die Besucher I.K.) kommen vielleicht schon Nachmittags dorthin gezogen, bringen sich ihr belegtes Brot und ihre Butterstullen mit, und nehmen dann familienweise die Tische ein. Sie besitzen auch meistens eine solche Ausdauer, dass, wenn sie einen guten Platz erwischt haben, von 7 bis 11 Uhr ununterbrochen an ihrem Tische bleiben, den nur die Jugend verlässt, um ab und zu Streifzüge in dem grossen Garten zu unternehmen, Karussell zu fahre, zu würfeln, Rutschbahn zu fahren u.s.w. und dann wieder zurück zu kommen. Das Auditorium ist außerordentlich beifallsfreudig. Ein dankbareres Publikum wird man vielleicht selten finden, und da es der billige Eintrittspreis ermöglicht, dass die Leute öfter kommen, so ist schon eine ziemliche Fühlung zwischen dem Publikum vorhanden. Das Publikum kennt jeden Einzelnen, und gar bald wird der eine oder andere zum Liebling, der dann besonders stark applaudiert wird. In den Pausen zwischen den Variétés-Programms geht man dann herum und sieht sich das Getriebe dieses Riesenjahrmarktes an, der sich dort für den ganzen Sommer aufgethan hat. [...] Dass sich die Jugend, besonders die vielen Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen u.s.w. mit Vorliebe dem Tanz hingeben, der im grossen Saale mehrere Male stattfindet, ist ja selbstverständlich. Und wenn dann Abends so zwischen elf und zwölf allmählich Schluss gemacht wird, dann ergießt sich eine wahre Völkerwanderung aus diesen Riesenräumen auf die Strasse, und die Hasenheide kann es in den Nachmittag- und Abendstunden eines schönen Sonntags an gewaltigem Verkehr jederzeit mit der Leipziger- und Friedrichstrasse aufnehmen, nur mit dem Unterschied, dass in beiden letzteren fast nur geschäftliche Rüchsichten in Betracht kommen, während hier nur das Vergnügen die treibende Kraft ist, die solche Menschenmassen in Bewegung setzt."

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